Die bekannten Videoplattformen sind voll mit Reaktionsvideos von farbsehschwachen Menschen, die zum ersten Mal eine Farbsehkorrekturbrille benutzen. Die Videos sind oft sehr emotional gedreht und zeigen Personen, die von den neuen Eindrücken überwältigt zu sein scheinen. Doch halten die Brillen in der Realität, was die Videos suggerieren?
Welche Farbsehschwäche-Korrekturoptiken gibt es überhaupt?
Grundsätzlich lässt sich die Art der optischen Hilfsmittel für Farbsehschwache in zwei Kategorien einteilen: Brillen bzw. Brillengläser und Kontaktlinsen. Erstere sind von verschiedenen Herstellern im Handel verfügbar. Letztere befinden sich derzeit noch in einem Forschungs- bzw. Entwicklungsstadium. Mit Ausnahme der Kontaktlinsen des Herstellers ChromaGen, lagen über eine Markteinführung weiterer Farbsehschwäche-korrigierenden Kontaktlinsen bei der Erstellung dieses Artikels keine Informationen vor.
Die ersten kommerziell verfügbaren Hilfsmittel benutzen unterschiedlich eingefärbte Linsen bzw. Brillengläser, um einen Intensitätsunterschied zwischen den beiden Augen bei bestimmten Farben zu erzeugen. Das menschliche Gehirn adaptiert nach einiger Zeit den unterschiedlichen Farbeindruck, und so soll die Unterscheidung der vorher problematischen Farbbereiche möglich sein.
Den meisten neueren Hilfsmitteln ist gemein, dass mittels geeigneter Filterauswahl Bereiche des sichtbaren Spektrums nahezu ausgeblendet werden. Es handelt sich dabei um Bereiche, in denen Farbfehlsichtige Probleme haben, die unterschiedlichen Farbtöne auseinander zu halten. Diese „schwierigen“ Farben sollen so für das farbfehlsichtige Auge voneinander getrennt werden. Für eine wirksame Trennung dieser Spektralbereiche werden Filter mit einer hohen Trennschärfe benötigt. Die hohe Trennschärfe wird durch eine hohe Kantensteilheit bei der Absorption im Übergang von erwünschten zum unerwünschten Spektralbereich erzeugt. Buntglasfilter, wie sie beispielsweise in Sonnenbrillen zu finden sind, sind dafür weniger geeignet.
Alle nachfolgenden Technologien funktionieren meistens nur für Trichromaten, also farbfehlsichtige Menschen mit drei funktionierenden Zapfentypen, von denen ein Typ lediglich in seinem Sensitivitätsbereich verschoben ist. Unabhängig von der Art des optischen Hilfsmittels lassen sich die Farbsehkorrekturhilfen mit den trennscharfen Filtern in folgende Funktionsprinzipien unterteilen:
Interferenzfilter:
Um die verschieden Spektralbereiche sauber voneinander zu trennen, sind Farbfilter mit einer hohen Kantensteilheit vonnöten. Interferenzfilter [1] sind hierfür geeignet. Es werden mehrere Schichten unterschiedlicher Dicke auf das Glas aufgebracht [2]. Die Anzahl und Dicke der unterschiedlichen Schichten entscheidet darüber, welcher Spektralbereich geblockt wird und mit welcher Kantensteilheit die erwünschten von den unerwünschten getrennt werden.Nanopartikelfilter:
Bei Nanopartikelfiltern werden Streuungseffekte an Partikeln im Nanometerbereich (5 nm – 100 nm) genutzt. Die Partikelgröße ist hier also kleiner als die Wellenlänge des sichtbaren Lichts (~ 380 nm – 750 nm).
Sind die Partikel in zufälliger Anordnung in einer Trägersubstanz eingelagert, so wird der Mie-Streuungseffekt ausgenutzt, also die Reflexion an ihrer Oberfläche. Dadurch, dass die Partikel eben kleiner sind als die Wellenlänge des reflektierten Lichts, werden nicht alle Wellenlängen gleichermaßen reflektiert bzw. durchgelassen. Mit der geeigneten Partikelgröße lässt sich ein für farbsehschwache Trichromaten geeigneter Bereich einstellen.
Es besteht darüber hinaus die Möglichkeit, die Partikel in einem Gitter anzuordnen. Je nach Gitterabstand stellen sich dadurch Resonanzeffekte ein, die bestimmte Spektralbereiche des sichtbaren Lichts ausblenden. Mit dieser Technik werden vergleichsweise hohe Kantensteilheiten erreicht.
Brillen für die Farbsehschwächekorrektur
Der mutmaßlich am weitesten verbreitete Hersteller ist Enchroma – zumindest wirbt dieser Hersteller im größeren Umfang und ist auch durch diverse Reaktionsvideos bekannt geworden. Es werden unterschiedliche Modelle für Menschen mit Deuteranomalie und Protanomalie angeboten. Des Weiteren gibt es unterschiedliche Modelle für Innenraum- und Außenanwendungen. Die Brillen basieren auf einer Interferenzfilter-Technologie. Dieser Anbieter für Farbsehkorrekturbrillen ist damit auch der, dessen Brillen am häufigsten untersucht worden sind.
Eine Sonderrolle nimmt der Anbieter Vino ein. Die Brillen dieses Anbieters wurden ursprünglich als Venenfinderbrillen für medizinisches Fachpersonal konzipiert, sodass Zugänge schneller und genauer gelegt werden können. Es hat sich danach herausgestellt, dass diese Brillen auch farbsehschwachen Personen helfen, Farben besser voneinander zu unterscheiden. Die Filtertechnologie wird vom Hersteller nicht angegeben – eine Art von Interferenzfilter ist aber nach den Patentunterlagen wahrscheinlich [3]. Angeboten wird nur ein Typ von Farbsehkorrekturgläsern.
Der Anbieter Pilestone arbeitet mit fünf verschiedenen Gläsertypen. Diese sind laut Hersteller teilweise für alle Rot-Grün-Schwächen tauglich und unterscheiden zwischen Innen- und Außenanwendungen. Es wird darüber hinaus auch ein Modell für Tritanomalie angeboten. Die Filtertechnologie wird auch von diesem Hersteller nicht angegeben und ist auch nicht aus anderen Veröffentlichungen abzuleiten.
Die Firma Colordrop bietet eine Brille an, die sowohl Menschen mit Deuteranomalie als auch Protanomalie helfen soll. Darüber hinaus gibt es Brillen für Außenanwendungen. Die Filtertechnologie ist ebenfalls nicht explizit angegeben – Aufgrund der Bebilderung und des Verweises auf eine mehrschichtige Filtertechnologie, ist ein Interferenzfilter sehr wahrscheinlich.
Die Firmen Colorlite und Coloron haben beide ihren Ursprung an der Budapester Universität. Bei Colorlite werden nach eigenen Angaben die Gläser auf die entsprechende Farbsehschwäche angepasst. Die Anpassung wird über die Optiker vor Ort vorgenommen. Es ist also davon auszugehen, dass mindestens eine Version für Protanomalie und eine für Deuteranomalie angeboten wird. Über die verwendete Filtertechnologie gibt es keine Angaben und die veröffentlichten Transmissionskurven lassen auf eine Art Buntglasfilter schließen.
Coloron, der zweite Anbieter mit dem Ursprung an der Budapester Universität, bietet auch verschiedene Versionen für Deuteranomalie und Protanomalie an. Auch hier gibt es wieder unterschiedliche Brillen für Innen- und Außenanwendungen. Auch Coloron macht keine konkreten Angaben über die Filtertechnologie – die Erklärung, dass bestimmte Spektralbereiche herausgefiltert werden, lässt auf eine Art Interferenzfilter schließen.
Kontaktlinsen
Bei Kontaktlinsen ist das Angebot nicht so groß wie das der Brillen. Es gibt mehrere Ansätze in frühen Entwicklungsphasen, kommerziell erhältlich ist aber lediglich das Angebot von ChromaGen. Der Hersteller verwendet zwei unterschiedliche Kontaktlinsen, von denen eine mit einem Farbstoff eingefärbt und die andere klar ist. Durch die unterschiedliche Farbwahrnehmung auf den beiden Augen soll eine Differenzierung von Farben, welche normalerweise von Farbsehschwachen nicht unterschieden werden können, möglich sein. Zusätzlich soll diese Linsentechnologie auch bei Dyslexie helfen.
Darüber hinaus wurden Kontaktlinsen mit einem Farbfilter [4], einem Bragg-Interferenzfilter [5], Gold-Nanopartikel-Filter [6] und mit einem Gittereffekt auf Basis der „Surface Lattice Resonance“ [7] untersucht. Alle diese Varianten sind jedoch nicht kommerziell erhältlich.
Wie wurde getestet?
Die Testauswahl und die Probandenanzahl und damit der Stichprobenumfang variierte in den verschiedenen Studien stark. Meistens wurden Varianten von Ishihara- und Farnsworth-Munsell-Tests angewandt. Teilweise wurde auch die allgemeine Farbwahrnehmung im RGB-Raum getestet.
Die Probandenzahl ist generell gering. Teilweise wurden Fallstudien mit nur einer einzigen Person veröffentlicht. Die maximale Studienteilnehmerzahl liegt bei 49 Personen.
Ergebnisse und Fazit
Die Autoren der Metastudie „Color vision devices for color vision deficiency patients: A systematic review and meta-analysis“ fassen die Ergebnisse wie folgt zusammen [auf die wesentlichen Aussagen gekürzt]:
Es wurden Studien im Zeitraum von 1967 bis 2022 betrachtet. Die Studienlage ist eher wenig aussagekräftig und entspricht nicht den Standards klinischer Studien und Evidenz-basierter Methodik. Die Studienresultate waren nicht signifikant. Für die meisten untersuchten Farbfehlsichtigkeitshilfen war der Stichprobenumfang schlicht zu gering, um überhaupt eine statistische Aussage zu treffen. Die Werbeaussagen konnten nicht bestätigt werden. Betroffene sehen keine neuen Farben. Die Autoren sehen jedoch Potential in den neuen Filtertechniken auf Nanopartikelbasis und auch für Augmented-Reality Anwendungen.
Wenn Verbesserungen im Farbsehen zu erwarten sind, dann bei Trichromaten, vor allem bei Deuteranomalen und Protanomalen. Das Ergebnis hängt jedoch sehr stark von der individuellen Ausprägung der Farbsehschwäche ab und die Verbesserung im individuellen Farbsehen ist sehr wahrscheinlich nicht signifikant. Eine Erweiterung der Farbwahrnehmung, also dass Betroffene durch das Tragen der Farbsehhilfe neue oder mehr Farben sehen können, ist nicht zu erwarten. Neuere Studien [8][9][10], die noch nicht in diese Metastudie eingeflossen sind, kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen.
[1] https://patents.google.com/patent/US20140233105A1/en
[2] https://www.spektrum.de/lexikon/physik/interferenzfilter/7328
[3] https://patents.google.com/patent/US20120277558
[4] https://europepmc.org/article/med/7728111
[5] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/adhm.201800152
[6] https://pubs.acs.org/doi/pdf/10.1021/acsnano.0c09657?src=getftr
[7] https://www.nature.com/articles/s41598-022-06089-8
[8] https://opg.optica.org/oe/fulltext.cfm?uri=oe-30-18-31872&id=492804
[9] https://www.jaapos.org/article/S1091-8531(20)30100-2/fulltext
[10] https://opg.optica.org/oe/fulltext.cfm?uri=oe-30-17-31182&id=491334